Norwegen
Das norwegische Gesundheitssystem bietet universellen Krankheitsschutz. Es finanziert sich hauptsächlich über allgemeine Steuern und Lohnabgaben, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern anteilig getragen werden (Commonwealth Fund 2020g). Die Regulierung, Finanzierung und Überwachung der Gesundheitsversorgung obliegt dem norwegischen Staat. Die Gesundheitsversorgung ist semi-föderalistisch organisiert: Während der Staat für die fachärztliche Versorgung einschließlich Krankenhausleistungen zuständig ist, liegt die Verantwortung für die primäre, präventive und langfristige Versorgung sowie die Sozialfürsorge in der Hand der Kommunen. Es gibt vier regionale Gesundheitsbehörden (Regional Health Authorities, RHA), die mit der Umsetzung der nationalen Gesundheitspolitik in den Regionen beauftragt sind. Die stationäre Versorgung wird vorwiegend durch 20 öffentliche Krankenhausstiftungen getragen, die als öffentlich-rechtliche Körperschaften verwaltet werden. Im Jahr 2018 hatte Norwegen 35,3 Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohner; das entspricht einem Rückgang von sieben Prozent gegenüber dem Jahr 2000 (WHO 2020). Für elektive und akute fachmedizinische Versorgung ist eine Überweisung vom Hausarzt erforderlich. Davon ausgenommen sind bestimmte Indikationen wie Unfälle oder Herzinfarkte. Patienten können bei elektiven Leistungen frei zwischen Krankenhäusern wählen, nicht aber bei Notfallbehandlungen. Der Krankheitsschutz für Einwohner Norwegens ist zwar universell, für die meisten ambulanten Leistungen wie zum Beispiel Facharztbesuche oder rezeptpflichtige Medikamente fällt aber eine Kostenbeteiligung an.
Zur Gewährleistung der Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung hat Norwegen mehrere Mechanismen entwickelt: Der Nationalrat für Gesundheitsüberwachung prüft verschiedene Bereiche des Gesundheitssystems auf Landes- und Versorgerebene (Commonwealth Fund 2020g). Krankenhäuser müssen schwerwiegende unerwünschte Ereignisse dem Ausschuss melden, der Abmahnungen oder Bußgelder verhängen kann. Gemäß der Richtlinie für die „Leitung und Qualitätsverbesserung bei Gesundheitsleistungen“ sind Krankenhäuser verpflichtet, Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität und Sicherheit durchzuführen. Krankenhäuser müssen ihre Ergebnisse erfassen und darüber Rechenschaft ablegen. Ein landesweites Reporting- und Lernsystem für unerwünschte Ereignisse in Krankenhäusern ist eingeführt worden.
Umsetzung von PROMs
Norwegen hat derzeit noch keine nationale Strategie für PROMs. Es gibt jedoch einige Forschungsbereiche und -programme. Für den Austausch von Erfahrungen aus PROMs-Projekten wurden in Norwegen zwei Einrichtungen geschaffen, die Leistungen für Register und zu Forschungszwecken bereitstellen sollen: Das Fachzentrum für Patienten-berichtete Daten wurde 2015 gegründet und ist beim Nationalen Service für medizinische Qualitätsregister angesiedelt (Enden et al. 2018). Es bietet Beratung und Orientierungshilfen zur Anwendung von PROMs und PREMs, in erster Linie für nationale Qualitätsregister und Forschungsgruppen in der von Helse Vest (der westnorwegischen regionalen Gesundheitsbehörde) beaufsichtigten Region. Eine weitere Einrichtung ist Patient Reported Outcome Measures in Clinical Research (PROMiNET), die Leitlinien für die Anwendung von PROMs in der klinischen Forschung und Praxis herausgibt. Sie ist für die Region der südlichen und östlichen norwegischen Gesundheitsbehörde zuständig (Helse Bergen 2017). PROMiNET wurde mit finanzieller Unterstützung dieser regionalen Gesundheitsbehörde gegründet (PROMiNET o.D.) und steht unter Verwaltung der regionalen Forschungsförderung am Universitätsklinikum Oslo. In allen Krankenhäusern der Region gibt es Netzwerkpartner.
Beide Einrichtungen organisieren Kurse und Konferenzen, um die Anwendung von PROMs zu fördern und die Qualität von PRO-Daten zu verbessern. Die Angebote richten sich an medizinische Qualitätsregister und die klinische Forschung (Enden et al. 2018). Ziel ist es, die Validität, Zuverlässigkeit, Veränderungssensitivität und Angemessenheit norwegischer PRO-Daten zu gewährleisten. Zu diesem Zweck werden Informationen zu validierten Fragebögen und Erfassungsmethoden leicht zugänglich gemacht. Diese Informationen können auch von Wissenschaftlern und Ärzten in den anderen norwegischen Regionen abgerufen werden.
Die Registerinfrastruktur für PROMs ist zwar verhältnismäßig weit entwickelt, es haben aber nur wenige Versorger PROMs in ihre klinische Praxis integriert. Zu den prominentesten Beispielen für PROMs-Anwendung auf Versorgerebene gehört zurzeit das Lovisenberg Diakonale Hospital. Um Top-down-Initiativen nationaler Register im Bereich PROMs besser mit entstehenden Bottom-up-Projekten zu verbinden, erforschen Register gegenwärtig Möglichkeiten einer Integration von Instrumenten zur Erfassung von PROMs in das norwegische ePA-System. Laut Dr. Christer Mjåset, Neurochirurg und stellvertretender CEO von Helseplattformen AS, arbeitet die zentralnorwegische regionale Gesundheitsstiftung an einer Einbindung der PROMs-Erfassung in die neue EPIC-Plattform („Helseplattform“, Gesundheitsplattform), die 2021 bis 2023 eingeführt werden soll.
Krankheitsbilder und Therapiegebiete im Fokus
In Norwegen werden PROMs überwiegend in den Bereichen orthopädische Erkrankungen und Verfahren sowie neurologische und psychische Störungen genutzt. Dies zeichnet sich auch in der Anzahl der nationalen Qualitätsregister in diesen Therapiegebieten ab. PROMs für Patienten mit chronischen Krankheiten wie Diabetes im Kindesalter, speziellen Krebstypen wie Prostatakarzinom sowie akut behandlungspflichtigen Indikationen wie Herzinfarkt und Herzstillstand werden ebenfalls in zweckbestimmten Qualitätsregistern erfasst. Laut Dr. Christer Mjåset sind PROMs im Forschungssektor Orthopädie relativ anerkannt und werden bei psychischen Erkrankungen bis zu einem gewissen Grad klinisch genutzt. So konzentrieren sich PROMs-Initiativen am Lovisenberg Diakonale Hospital zum Beispiel auf Anwendungen in den Bereichen psychische Gesundheit, Krebstherapie und Behandlung der chronischen obstruktiven Lungenerkrankung.
Formen der PRO-Datennutzung
Aktuell werden PRO-Daten für verschiedene Forschungsprojekte verwendet. Die Erfassung von PROMs erfolgt in erster Linie über nationale Qualitätsregister: Im Jahr 2020 gab es 54 vom Gesundheitsministerium zugelassene nationale medizinische Qualitätsregister, in denen strukturierte Daten über den gesamten Behandlungsverlauf von Patienten mit bestimmten Erkrankungen erfasst werden (Nasjonalt servicemiljø for medisinske kvalitetsregistre 2017). Die Indikatoren fallen in drei Kategorien: Infrastruktur-, Prozess- und Ergebnisdaten. Zur letztgenannten Kategorie gehören in 26 dieser Register auch PROMs. Derzeit verwenden sieben dieser 26 Register e-PROM (Nasjonalt Servicemiljø for Medisinske Kvalitetsregistre, o.D.b). Andere Qualitätsregister, die für die Erfassung von PRO-Daten elektronische Lösungen anstreben, werden vom Zentrum für klinische Dokumentation und Evaluation (Senter for klinisk dokumentasjon og evaluering, SKDE) gefördert. Dabei handelt es sich um eine unabhängige Stelle, die der nördlichen regionalen Gesundheitsbehörde angegliedert ist.
Aggregierte PRO-Daten werden für registergestützte Forschung eingesetzt, beispielsweise zur Ermittlung von Best Practices und der entsprechenden Anpassung klinischer Leitlinien. Das norwegische Hüftfraktur-Register ist ein Beispiel für die PRO-Datennutzung zu diesem Zweck: Initiiert von der norwegischen Fachgesellschaft für Orthopädie im Jahr 2005 (Nasjonalt Servicemiljø for Medisinske Kvalitetsregistre o.D.a) ist das Register inzwischen auf über 125.000 Datensätze angewachsen. Dazu gehören PRO-Daten aus Fragebögen, die vier, zwölf und 36 Monate nach chirurgischen Eingriffen an alle Patienten verschickt werden. Im Jahr 2010 wurde aus einer Analyse der Ergebnisdaten im Register die Empfehlung abgeleitet, dislozierte Oberschenkelhalsfrakturen bei älteren Patienten hemiarthroplastisch und nicht osteosynthetisch zu behandeln (Gjertsen et al. 2010). Die Datenanalyse ergab für diese Patientengruppe bessere Ergebnisse bei Hemiarthroplastiken, einschließlich reduzierter Schmerzstärke, höherer Lebensqualität und besserer Funktionsfähigkeit. Im Jahr 2005 erhielt noch die Hälfte aller Patienten mit Oberschenkelhalsfrakturen eine Osteosynthese; bis zum Jahr 2017 war der Anteil der Patienten mit diesem Verfahren auf etwa fünf Prozent zurückgegangen (Nasjonalt Hoftebruddregister 2018). Zu diesem Zeitpunkt wurden 95 Prozent dieser Patienten mit einer Hemiarthroplastik versorgt.
PRO-Daten sind einerseits zwar bereits in fast 50 Prozent aller nationalen medizinischen Qualitätsregister integriert und aggregierte PRO-Daten werden für die Forschung zur Überarbeitung klinischer Leitlinien verwendet. Andererseits gibt es in der klinischen Praxis aber nur wenige Beispiele für die PROMs-Integration auf Versorger- oder Abteilungsebene: Das Lovisenberg Diakonale Hospital in Oslo, größtes privates Non-Profit-Krankenhaus Norwegens, startete 2013 das Projekt LovE-PROM und begann mit der systematischen Erfassung von PROMs für spezielle Programme im Bereich psychische Gesundheit (Lovisenberg Diakonale Sykehus 2019): Vor der Aufnahme oder Konsultation im Krankenhaus erhalten die Patienten Textnachrichten. Übermittelte Fragebögen können zu Hause ausgefüllt werden; die Antworten der Patienten können innerhalb von Minuten im Informationssystem des Krankenhauses heruntergeladen werden. Damit ist ein zeitnaher Zugriff auf PROMs-Ergebnisse gewährleistet. Außerdem werden die Antworten automatisch analysiert und der behandelnde Arzt erhält einen Bericht. Darin werden die Ergebnisse veranschaulicht und Antworten markiert, die womöglich eine Notwendigkeit medizinischer Versorgung oder näherer Abklärung anzeigen. So werden Schwerpunkte für anschließende Arzt-Patienten-Gespräche und für Therapien gesetzt. Aggregierte PRO-Daten werden zusammen mit den Kosten- und Verfahrensdaten in einem Dashboard zusammengefasst, auf das Klinikaufsicht und -verwaltung zugreifen können. Außerdem werden alle empfangenen PRO-Daten täglich an die entsprechenden Register übermittelt. Die automatische Auswahl und Ausgabe der PRO-Fragebögen wird durch einen Algorithmus unterstützt. Im Rahmen der LovE-PROM-Initiative baut das Lovisenberg Diakonale Hospital ein gemeinsames Netzwerk mit anderen Versorgerverbänden auf. Auf diese Weise sollen Erkenntnisse ausgetauscht und die Einführung dieses Ansatzes in weiteren Krankenhäusern und Indikationsgebieten gefördert werden.
Auch auf individueller Ebene werden PROMs zunehmend genutzt, und zwar für telemedizinische Nachsorge und Fernmonitoring von Patienten. Diese Form der PROMs-Verwendung ist inzwischen erstattungsfähig.
Herausforderungen
Probleme bei der PROMs-Anwendung gibt es vor allem auf Ebene der Ärzte und Patienten: Experten weisen auf die fehlende Verankerung von PROMs in der klinischen Praxis hin. Ergebnisse von PROMs-Erhebungen für Register gelangen nicht zu Ärzten und Patienten, da eine individuelle Rückmeldung nicht stattfindet. Die papiergestützte Erhebung von PROMs wird als umständlich wahrgenommen, und Ergebnisse kommen nicht zeitnah bei Ärzten an. Außerdem können aggregierte PRO-Daten, die auf Krankenhausebene erfasst wurden, von Ärzten nicht ohne Einwilligung der Patienten oder der regionalen Gesundheitsbehörde für Forschungszwecke verwendet werden. Nur wenige Versorger, wie etwa das Lovisenberg Diakonale Hospital, haben digitale Lösungen entwickelt, die eine automatische Verteilung der Fragebögen an Patienten, PROMs-Erfassung, -Analyse und -Übermittlung an nationale Qualitätsregister unterstützen.
Unter diesen Umständen stehen sowohl Patienten als auch Ärzte der Erhebung und Verwendung dieser Daten weiterhin skeptisch gegenüber. Besonders Ärzte nehmen PROMs häufig als zeitaufwendiges Verwaltungsinstrument wahr und scheuen ein solches Erfasst- und Verglichenwerden. Ein weiterer Einwand, der in Interviews zur Sprache kam, ist eine ungeeignete oder fehlende Risikoadjustierung der Ergebnisse. Zudem gibt es aktuell wenige prominente Beispiele, die als Konzeptnachweis dienen und die PROMs-Nutzung in der klinischen Praxis anstoßen helfen könnten.
Erfolgsfaktoren
Erfolgsbeispiele für die Umsetzung von PROMs in Norwegen gibt es sowohl auf Versorgerebene als auch bei registergestützten Top-down-Ansätzen.
Aufgrund der Erfahrungen mit PROMs im klinischen Umfeld benennt Per Arne Holman, Leiter der Abteilung Analyse für Patientensicherheit und Forschung am Lovisenberg Diakonale Hospital, fünf Schlüsselaspekte einer erfolgreichen Umsetzung: 1. Der administrative Teil der PROMs-Einführung sollte möglichst automatisiert werden; 2. die Auswahl der Fragebögen sollte sich an der Relevanz für Patienten und Ärzte orientieren; 3. Patienten sollten direkt auf PRO-Daten zugreifen können – nicht nur über Ärzte; 4. die Erfassung von PRO-Daten sollte zeitnah erfolgen, damit klinische Behandlungspfade angepasst werden können; 5. der Schwerpunkt sollte immer auf Lernen und Entwicklung gerichtet sein und zu diesem Zweck sollte Ergebnistransparenz eingeführt werden.
Erfolgreiche Bottom-up-Initiativen wurden von den interviewten Experten als wichtige potenzielle Impulsgeber für eine Top-down-Unterstützung auf Systemebene und damit für die weitere Verbreitung von PROMs-Anwendungen genannt. Momentan überwiegt in Norwegen ein forschungsorientierter Top-down-Ansatz. Eine starke registergestützte Forschungsinfrastruktur fördert vornehmlich die Nutzung aggregierter PRO-Daten. Auf Basis von mehr Bottom-up-Initiativen könnten Best Practices für die Anwendung von PROMs auf individueller Ebene ermittelt und nationale Leitlinien dahingehend angepasst werden. Mit der Integration von Datenbanken und PRO-Instrumenten in nationale ePA-Systeme und der automatischen Übermittlung von Daten an nationale Qualitätsregister werden sich Qualität und Menge der Daten wahrscheinlich erhöhen. Die Finanzierung von Registern ist begrenzt (100.000 bis 150.000 Euro pro Register im Jahr) und muss häufig von Leistungserbringern, die Register führen, mitgetragen werden. Eine Erstattungsfähigkeit von PROMs könnte hier den finanziellen Aufwand reduzieren. Im Rahmen von Fernmonitoring oder telemedizinischer Nachsorge im Bereich psychische Gesundheit sind PROMs bereits heute erstattungsfähig.
Herausforderungen der Umsetzung | Erfolgsfaktoren |
Begrenzte Verankerung von PROMs in klinischer Praxis, PROMs werden direkt an Register übermittelt
Begrenzte Akzeptanz von PROMs seitens Patienten und Ärzteschaft (Angst vor unfairen Vergleichen) |
» Ergänzung des Top-down-Ansatzes von Registern um mehr Bottom-up-Initiativen (z.B. Vorreiter im klinischen Bereich, die PROMs-Umsetzung in ihrem Fachgebiet fördern).
» Anreize für Ärzte (Forschung, Benchmarking, Austausch über Best Practices) und Patienten (Förderung der Mitwirkung, Gesundheitskompetenz), an der Erfassung und Nutzung von PROMs teilzunehmen. » Volle Transparenz über Zweck und Verwendung von PROMs (vor allem zur Qualitätsverbesserung und Förderung patientenzentrierter Gesundheitsversorgung). |
Zersplitterte IT-Infrastruktur, die die versorgerübergreifende Erhebung von PROMs erschwert; landesweites IT-System für automatisierte PROMs fehlt |
» Verknüpfung regionaler /versorgerseitiger Datenbanken auf nationaler Ebene.
» Integration von PRO-Instrumenten in nationales ePA-System. |
Aktualität und Verwertbarkeit von PROMs in klinischer Praxis bei papiergestützter Erfassung (z.B. für Qualitätsregister) | » Einsicht in PRO-Ergebnisse zuallererst für Patienten und Ärzte, anschließende oder gleichzeitige Übermittlung aggregierter PRO-Daten an Register (möglichst automatisiert). |
Begrenzte Finanzierung von Registern und finanzielle Unterstützung für PROMs | » Erstattung für PROMs (z.B. Entgelt pro Patient bei Anwendung von PROMs für Fernmonitoring). |
Wenige prominente Beispiele für PROMs, die weitere Bottom-up-Initiativen anregen könnten
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» Schrittweise Umsetzung verschiedener Pilotprojekte und Sammeln von Erfahrungen mit PROMs (Nachweis klinischer Relevanz).
» Plattform für Versorger, die PROMs umsetzen, zum Austausch über gewonnene Erkenntnisse und Best Practices. |